Wie wird im Fernglas die visuelle Verzeichnung korrigiert? (ohne Mathematik!)

Holger Merlitz


Bereits im 19. Jahrhundert beschrieb Herrmann von Helmholtz ein Experiment, in dem ein krummes ('verzeichnetes') Schachbrettmuster, falls aus der richtigen Distanz betrachtet, einem Beobachter gerade ('unverzeichnet') erscheinen sollte [1]. Diese Beobachtung könnte darauf hinweisen, dass im Rahmen der visuellen Wahrnehmung eine Art Verzeichnung auftritt, die das krumme Schachbrettmuster wieder gerade biegt.


1. Was bedeutet Verzeichnung?

Verzeichnung bedeutet, dass die Positionen der Bildpunkte gegeneinander verschoben sind. Hier befassen wir uns nur mit einer speziellen Form von Verzeichnung, bei der die Bildpunkte zentralsymmetrisch zur Bildmitte systematische Verschiebungen aufweisen. Dazu verwenden wir einen Verzeichnungsparameter, den wir als 'k' bezeichnen, und der die Stärke dieser Verzeichnung angibt.

A B C D

Abb.1: Schachbrettmuster mit unterschiedlich starken Verzeichnungen: Von links nach rechts: k=1 (unverzeichnet), k = 0.7, k = 0.5, k=0. Helmholtz verwendete das Brett C.


2. Gibt es wirklich eine Verzeichnung in der visuellen Wahrnehmung?

Helmholtz verwendete ein Schachbrettmuster der Verzeichnung k=0.5 (Abb. 1 C). Im Jahre 2009 haben niederländische Wissenschaftler das Experiment von Helmholtz verfeinert und Messungen an Versuchspersonen vorgenommen [2]. Ein digitales Abbild eines Schachbretts wurde auf einem großen Computerbildschirm dargestellt und von den Probanden von einem vorgegebenen Abstand aus betrachtet. Die Verzeichnung konnte stufenlos geregelt werden, und die Probanden sollten dabei die Mitte des Schachbretts fixieren und diejenige Verzeichnung einstellen, bei der ihnen das Schachbrett möglichst regulär (unverzeichnet) erschien. Das Ergebnis ist in Abb. 2 dargestellt:

Abb. 2: Die Kurve "Fixation" zeigt die Verteilung der Verzeichnungsparameter, die von den Probanden ausgewählt wurden (modifizierte Abbildung aus [2]). Das Maximum liegt bei dem Verzeichnungsparameter k=0.73 (rot), nicht bei dem von Helmholtz vorgeschlagenen Wert k=0.5 (orange).

Die Probanden wählten unterschiedliche Werte, bei denen ihnen die Schachbretter unverzeichnet erschienen. Ein Maximum besteht bei k=0.73 (roter Pfeil), aber die Verteilung ist breit gestreut und weist darauf hin, dass Menschen die Schachbretter unterschiedlich wahrnehmen. Der von Helmholtz vorgeschlagene Wert, k=0.5 (orangener Pfeil), wurde von nur wenigen Probanden ausgewählt.

Wenn also Versuchspersonen Schachbretter, die verzeichnet sind, im Experiment als regulär empfinden, dann muss eine entgegengesetze Verzeichnung in der Wahrnehmung existieren, die kompensierend wirkt. Alle Schachbretter der Werte k<1 haben eine kissenförmige Verzeichnung, bei der die Konturen sich nach innen verbiegen, und die Wahrnehmung muss eine gleich starke tonnenförmige Verzeichnung aufweisen, um eine Kompensation zu bewirken.


3. Wann ist diese tonnenförmige Verzeichnung wahrnehmbar?

Eine tonnenförmige Verzeichnung in der Wahrnehmung sorgt dafür, dass gerade Konturen sich abseits der Gesichtsfeldmitte (d.h. der Blickrichtung) nach außen (bauchförmig) wegkrümmen. Da die gemessenen Verzeichnungen (Abb.2) jedoch recht gering sind, und Kanten weit abseits der Gesichtsfeldmitte dem Auge ohnehin unscharf erscheinen, fällt eine solche Verkrümmung im Alltag nicht auf. Eine Ausnahme besteht dann, wenn ein Bild gleichmäßig und zügig vor dem Auge vorbeizieht, wie es bei einem Blick durch ein Fernglas der Fall ist, das keine eigene Verzeichnung aufweist und geschwenkt wird: Die tonnenförmige Verzeichnung der Wahrnehmung wird dann plötzlich als eine Wölbung des Bildes wahrgenommen, was allgemein als Globuseffekt bekannt ist [3]. Bereits seit Mitte des letzten Jahrhunderts werden Ferngläser mit einer kissenförmigen Sollverzeichnung ausgestattet, um diesen Globuseffekt zu eliminieren.


4. Der moderne Zugang zur Kompensation einer visuellen Verzeichnung im Fernglasbau

1949 wurde von Zeiss nach eingehenden Analysen vorgeschlagen, eine kissenförmige Verzeichnung von der Stärke der Winkelbedingung (k=0, Abb. 1 D) in die Fernglasabbildung zu integrieren [4]. Dies führte zwar zu einer Elimination des Globuseffekts, jedoch gerade bei weiten subjektiven Sehwinkeln zu einer recht starken Verzeichnung mit z.T. unästhetisch starken Krümmungen von geraden Konturen im Fernglasbild. Die neuen Erkenntnisse aus der Wahrnehmungstheorie (Abb. 2) deuten darauf hin, dass eine weit geringere Verzeichnung um k=0.7 (Abb. 1 B) bereits ausreichen dürfte, um die visuelle Verzeichnung für die Mehrzahl der Anwender zu kompensieren. Die Abb. 3 zeigt zum Vergleich die entsprechenden Verzeichnungskurven:

Abb. 3: Die relative Verzeichnung gibt an, um vieviele % die Bildpunkte von der Bildmitte weg verschoben werden. Die Kurve k=0.7 korrigiert die im Experiment am häufigsten gemessene visuelle Verzeichnung, während k=0.5 oder gar k=0 bereits überkorrigieren.

Die grüne Kurve (k=0) ist die von Sonnefeld vorgeschlagene Winkelbedingung, die orangene Kurve (k=0.5) entspricht der Stärke der von Helmholtz verwendeten Verzeichnung. Die rote Kurve (k=0.7) kompensiert die gemessene tonnenförmige Verzeichnung aus Abb. 2 am effektivsten und sorgt gleichzeitig dafür, dass die Stärke der kissenförmigen Verzeichnung möglichst gering bleibt. Unbedingt zu vermeiden sind dagegen irreguläre Verzeichnungskurven wie die als Beispiel gezeigte 'Schnurrbart-Verzeichnung', die für ein sehr unangenehmes Schwenkverhalten des Fernglases sorgt.


5. Das Zeiss SFL ist gemäß der k=0.7 Kurve korrigiert

Zeiss hat in seiner neuen SFL Serie die aus der Wahrnehmungstheorie resultierende k=0.7 Kurve implementiert, um den Globuseffekt mit geringstmöglicher Verzeichnung zu kompensieren. Die SFL Ferngläser zeigen daher an den Bildfeldrändern nur geringe durch die Verzeichnung bedingten Krümmungen, und gleichzeitig beim Schwenken keinen Globuseffekt.


6. Was kommt als Nächstes?

Die experimentellen Daten zur visuellen Verzeichnung, die in Abb. 2 zusammengefasst sind, haben ihre Probleme, da sie auf Messungen an lediglich 20 Versuchspersonen beruhen, und da es systematische Fehler geben könnte [2]: Die strikte Fixierung des Blicks auf das Zentrum des Schachbretts konnte im Versuch nicht erzwungen werden. Eine weit bessere Methode zur Messung der visuellen Verzeichnung müsste animierte Filme verwenden, die den Versuchspersonen über VR-Brillen vorgespielt werden. Die scheinbare Krümmung des bewegten Bildes ist viel einfacher zu beurteilen als die subtilen Verbiegungen von unscharf wahrgenommenen Konturen weit abseits der Blickrichtung. Die auf diese Weise erhaltenen Messwerte dürften präziser und weniger fehleranfällig sein als die in Abb. 2 präsentierten Daten.


[1] H. von Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik, 2. Auflage Voss, Leipzig (1980)
[2] A.H.J. Oomes, J.J. Koenderink, A.J. Doorn, H. de Ridder, What are the uncurved lines in our visual field? A fresh look at Helmholtz's checkerboard, Perception 38, p. 1284 (2009)
[3] H. Merlitz, Distortion of binoculars revisited: Does the sweet spot exist?, Journal of the Optical Society of America A 27, 50 (2010)
[4] A. Sonnefeld, Über die Verzeichnung bei optischen Instrumenten, die in Verbindung mit dem blickenden Auge gebraucht werden, Deutsche Optische Wochenschrift 13 (1949)

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Last updated: November 2024