Antwort auf Walter E. Schöns Beitrag: Wie der Globuseffekt entsteht und warum er Zylindereffekt heißen müsste

Holger Merlitz

1. Einleitung

Im Dezember 2023 hat Walter E. Schön auf seiner Webseite einen Beitrag gebracht, in dem er eine Interpretation des Globuseffekts darstellt und zu erklären versucht, warum es sich dabei eigentlich um einen 'Zylindereffekt' handelt. Im gleichen Artikel hat er meine Arbeit [1] erwähnt und als 'abwegig' bezeichnet, was mich zu einer Stellungnahme zwingt, die ich hier vorbringe. Ich werde zunächst zeigen, dass Schön in Wirklichkeit einen Spezialfall meiner Theorie behandelt, sein Modell also ebenso 'abwegig' sein muss, oder sogar noch 'abwegiger', denn ich zeige danach, dass der von ihm gewählte Parameterwert experimentell ausgeschlossen worden ist. Ferner zeige ich noch, dass Schöns Ansatz einen prächtigen Globuseffekt, keineswegs aber einen Zylindereffekt liefert.

Zunächst möchte ich voranstellen, dass ich hier meinen Zugang zum Globuseffekt nicht noch einmal vortragen muss, da er an anderer Stelle bereits ausführlich behandelt worden ist. Es geht also zunächst darum, zu verstehen, was Herr Schön auf seiner Seite und in seinem angehängten Skript [2] postuliert.

2. Schön behandelt einen Spezialfall der von mir vorgestellten Theorie

Auf der Seite 6 seines Skripts [2] wird die von ihm gemachte Grundannahme erläutert:

Grundannahme 1: Die Kamera registriert Strecken, das Auge aber Winkel.

Die Annahme, dass das Auge Winkel registriert, dass also die wahrgenommenen Abstände beliebiger Bildpunkte deren Winkelabständen entsprechen, legt die Geometrie des visuellen Raumes fest. Eine solche Eigenschaft erfordert einen sphärischen visuellen Raum, was in der von mir verwendeten Parametrisierung einem visuellen Verzeichnungsparameter des Wertes l=0 entspricht. Da sich auf HTML längere mathematische Formeln nicht sinnvoll darstellen lassen, führe ich die explizite Zwischenrechnung (die für das Verständnis der kommenden Abschnitte nicht nötig ist) in dem folgenden kleinen Skript vor. Ich zeige, dass mein Modell mit der Wahl l=0 zu derselben Mathematik führt wie Schöns Modell:

Damit ist zunächst gezeigt, dass Schön nicht etwa eine neue, originelle Idee vorgebracht hat, sondern einen Spezialfall meines Modells behandelt. Daß Schön anstelle der korrekten Rotationssymmetrie eine Zylindersymmetrie erhält, liegt an seiner fehlerhaften Koordinatentransformation: Schön rechnet eine Reihe von Punkten, die auf dem Äquator in regelmäßigen Abständen liegen, zunächst in Winkel um und ermittelt deren Winkelgeschwindigkeiten beim Schwenken. Nun argumentiert er, dass alle Trajektorien ober- und unterhalb des Äquators parallel und mit identischen Winkelgeschwindigkeiten verlaufen, wodurch er die Zylindersymmetrie vorgibt. Dies ist jedoch inkorrekt, da die tonnenförmige Verzeichnung des Auges (das gemäß seiner Annahme Winkel als Abstände registriert) eine Transformation sämtlicher Koordinaten in Winkel, und zwar rotationssymmetrisch um die Blickrichtung, erfordert. Die Konsequenz daraus ist in Abschnitt 4 gezeigt.

3. Ist die Annahme, dass das Auge Winkel als Abstände registriert, realistisch?

Nein. Bereits zu Helmholtz Zeiten im späten 19. Jahrhundert galt die Annahme, das Auge sehe einen 'Winkelraum', als widerlegt. Slevogt versuchte noch 1946, die Eigenschaften der visuellen Wahrnehmung aus rein geometrischen Überlegungen herzuleiten [3], aber all diese Versuche stellten sich als fruchtlos heraus. Wie das Auge geometrische Verhältnisse wahrnimmt, muss an Versuchspersonen im Labor getestet werden. Hier haben A. H. J. Oomes und seine Kollegen im Jahre 2009 die bisher besten Daten geliefert [4], und die folgende Abbildung fasst deren Ergebnisse zusammen:

Abb. 1: Die Abbildung 4a aus der Arbeit von Oomes et al. [4]. Die x-Achse ist die Stärke der visuellen Verzeichnung, die Kurven geben die Häufigkeiten der an Versuchspersonen gemessenen Werte an. Am häufigsten gemessen wurden Verzeichnungswerte um alpha = 0.63 (entspricht l=0.73, roter Pfeil). Die von Schön verwendete Annahme (l=0, alpha = 1.3, grüner Pfeil) liegt fernab der üblichen Verzeichnungswerte.

Entscheidend ist die Verteilungskurve 'Fixation', bei der die Versuchspersonen die Mitte der Testbilder anvisieren mussten, während die zweite Kurve ein Kontrollexperiment darstellt. Oomes normiert die Verzeichnung derart, dass das von Helmholtz vorgeschlagene Ergebnis (die 'Kreisbedingung') den Wert alpha=1 aufweist. Die Spitze der Verteilung liegt bei einem Verzeichnungswert von 0.63, was in meinem System einem Verzeichnungsparameter von l=0.73 entspräche (roter Pfeil). l=0.5 wäre Helmholtz Wert, und der von Walter E. Schön verwendete Wert (entsprechend der Winkelbedingung) ist l=0 oder alpha=1.3 in Oomes System. Der von Schön gewählte Wert von l=0 liegt weit außerhalb der üblicherweise auftretenden Verzeichnungswerte und kann als Grenzfall extremer tonnenförmiger Verzeichnung angesehen werden.

4. Globuseffekt, nicht Zylindereffekt

Was passiert denn nun wirklich, wenn ein orthoskopisches Fernglas unter der Annahme l=0 geschwenkt wird? Explizit berechnet hat Schön nur äquatoriale Trajektorien, die durch die Sehfeldmitte laufen. Anschließend versuchte er, auf mehreren Seiten seines Skriptes plausibel zu machen, warum Trajektorien ober- und unterhalb der Äquatorialen ebenfalls geradlinig verlaufen sollten, ohne dafür einen stichhaltigen Beweis vorzulegen. Nun, hier muss jedoch nicht spekuliert werden: Mit dem Computer lassen sich numerisch die Trajektorien beliebiger Bildpunkte erzeugen, und genau das habe ich getan (Fernglas mit 8x Vergrößerung und 8° objektivem Sehwinkel):

Abb. 2: Orthoskopisches Fernglas schwenkt über ein regelmäßiges Gitter. Links: Annahme l=0 (Walter E. Schön). Rechts: Die realistischere Annahme l=0.73 aus der Publikation von Oomes.

Es gibt einen Globuseffekt, der jedoch im Falle der von Schön gemachten Annahme ('Auge sieht Winkel') auffällig stark ausfällt. Mit den üblicherweise gemessenen Werten zur visuellen Verzeichnung (also etwa l=0.73) wirkt der Globuseffekt dezenter und dürfte in dieser Form auch von vielen Beobachtern wahrgenommen werden. Da natürlich die Verteilungskurve der visuellen Verzeichnung breit ist, wird jeder Beobachter seine individuelle Stärke des Globuseffekts wahrnehmen, oder eventuell auch gar keinen Effekt, falls etwa l > 0.8.

5. Fazit:

Kein Globus- oder Zylindereffekt lässt sich durch geometrische Konstruktionen erzeugen: Irgendwo in der Kette der bilderzeugenden Elemente muss eine Verzeichnung vorhanden sein, und da das Instrument aufgrund seiner orthoskopischen Eigenschaft als Urheber einer solchen Verzeichnung ausgeschlossen wird, bleibt der visuelle Raum. Genau das hat Schön auch beherzigt, als er die Grundannahme 1 einführte, die besagt, dass das Auge Winkel als Abstände wahrnimmt. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hat er damit einen sphärischen visuellen Raum eingeführt und dabei eine gehörige tonnenförmige Verzeichnung in die Abbildung eingepflegt. Die Konsequenz ist ein sehr ausgeprägter Globuseffekt beim Schwenken. Der Versuch, diesen als Zylindereffekt umzudeuten, muss jedoch fehlschlagen, denn die tonnenförmige Verzeichnung eines sphärischen visuellen Raumes ist zentralsymmetrisch zur Blickrichtung. Schöns Zylindereffekt ist die Folge eines Fehlers in seiner Koordinatentransformation.

Wie in Abb. 1 und Abb. 2 gezeigt, führt die Annahme von l=0 zu einer unrealistisch starken tonnenförmigen Verzeichnung. Eine passendere Parameterwahl von etwa l=0.7 würde dann zu realistischen Ergebnissen führen, und dies entspräche dann auch der Standardeinstellung meines Modells [1].

6. Nachtrag: So würde der Zylindereffekt aussehen

Abb. 3: Orthoskopisches Fernglas und Zylindereffekt, wie von Herrn Schön vorgeschlagen.

Auch wenn der Effekt in dieser Form nicht existiert, ist es möglich, die Koordinatentransformationen nach dem von Schön vorgeschlagenen Muster vorzunehmen. Das schwenkende Fernglas würde dem Beobachter dann den in Abb. 3 dargestellten Eindruck vermitteln. Noch einmal zur Klarstellung: Korrekt umgesetzt würden die Annahmen, die Herr Schön macht, zu einem Globuseffekt wie in Abb. 2 (links) führen. Mit der inkorrekten Transformation in links/rechts Winkelkoordinaten erhält man den Zylinder aus Abb. 3.

7. Quellen

[1] H. Merlitz, "Distortion of binoculars revisited: Does the sweet spot exist?", Journal of the Optical Society of America A 27, 50 (2010)
[2] W. E. Schöns Webseite zum Zylindereffekt, mit einem dort verlinkten Skript
[3] H. Slevogt, "Zur Definition der Verzeichnung bei optischen Instrumenten fuer den subjektiven Gebrauch", Optik (Stuttgart) 1, 358-367 (1946)
[4] A.H.J. Oomes, J.J. Koenderink, A.J. Doorn, H. de Ridder, "What are the uncurved lines in our visual field? A fresh look at Helmholtz's checkerboard", Perception 38, p. 1284 (2009).


8. Nachtrag 2

Schön hat jetzt in seinem in [2] verlinkten Skript einen zweiseitigen Nachtrag mit dem Titel Warum die Merlitzsche Erklärung der Globuseffekt-Ursache falsch ist angefügt, in dem er seine Missverständnisse zum Globuseffekt auflistet. Er identifiziert fünf vermeintliche "Merlitz-Fehler", dargestellt in separaten Abschnitten, auf die ich hier antworte:

Antwort zum ersten "Merlitz-Fehler": Im Bild des Fernglases bewegen sich alle Bildpunkte mit konstanter Geschwindigkeit. Das lässt sich leicht mit einer Kamera nachprüfen, die hinter das Okular montiert wird und den Schwenkvorgang aufnimmt. Die Winkelgeschwindigkeiten, die Schön als Ursache für den Zylindereffekt identifiziert, sind dabei irrelevant.

Antwort zum zweiten "Merlitz-Fehler": Die tonnenförmige Verzeichnung in der Wahrnehmung, die von Oomes et al. [4] gemessen wurde, ist im Alltag nicht sichtbar, da die subtilen Krümmungen gerader Kanten fernab der Blickrichtung nicht auffallen. Erst wenn ein Bild hinreichend schnell vor dem Auge vorbeigleitet, so dass der optokinetische Nystagmus überwunden wird, macht sich die leichte tonnenförmige Verzeichnung als eine Krümmung des bewegten Bildes bemerkbar.

Antwort zum dritten "Merlitz-Fehler": Im statischen Bild ist die tonnenförmige Verzeichnung nur unter speziellen Bedingungen messbar. Diese Verzeichnung führt jedoch im bewegten Bild zu Geschwindigkeitsänderungen der Bildpunkte (diesmal echte Änderungen, nicht wie die von Schön nur durch Koordinatenumrechnung herbeigezauberten), die das Gehirn als Krümmung des Bildes interpretiert. Die Sichtbarkeit des Globuseffekts ist, wie sich mit dem Fernglas leicht überprüfen lässt, durchaus abhängig von der Motivwahl und am deutlichsten, wenn flache Häuserfronten überstreift werden. Bei einer normalen Drehung des Kopfes tritt dieser Effekt im Alltag nicht auf, wegen des vestibulookulären Reflexes.

Antwort zum vierten "Merlitz-Fehler": Die Verzeichnung wurde gemessen (Abb. 1) und muss daher nicht mehr in Frage gestellt werden. Die Animationen (Abb. 2) stellen die Situation im visuellen Raum des Beobachters dar, der diese Verzeichnung ja bereits berücksichtigt! Diese Animationen formatfüllend zu beobachten wäre also Unsinn, denn dann wäre die visuelle Verzeichnung doppelt vorhanden. Um den Globuseffekt zu bewerten, sollte man tatsächlich ein animiertes reguläres Gitter formatfüllend betrachten (VR-Brillen wären zu diesem Zweck am besten geeignet).

Antwort zum fünften "Merlitz-Fehler": Der Verzeichnungsparameter "k" ist kein Verzeichnungswert, sondern er definiert eine komplette Verzeichnungskurve. Fährt man diesen Parameter durch das Intervall [0,1], so entsteht eine unendliche Kurvenschar, mit der sich die Schachbretter, die zu den in Abb. 1 dargestellten Daten führten, parametrisieren lassen (für k größer als 1 erhält man zusätzlich noch tonnenförmige Verzeichnungen). Die Angabe des "k"-Wertes kann damit unabhängig vom Sehwinkel der Optik erfolgen, was einen großen Vorteil gegenüber des herkömmlichen Verzeichnungswertes (am Sehfeldrand) darstellt. Da diese spezielle und sehr nützliche Parametrisierung erstmals in meiner Publikation [1] der Fachwelt vorgestellt wurde, wird die Kurve tan(ka) = m tan(kA) mit k=0.7 gelegentlich auch als Merlitz-Bedingung, und 'k' als Merlitz-Parameter bezeichnet.

Zusammenfassend lässt sich erkennen, warum Schön mit seinem Zylindereffekt auf dem Holzweg ist und warum er die wahre Ursache des Globuseffekts nicht begreift: Er versteht nicht den fundamentalen Unterschied zwischen dem virtuellen Bild und dem visuellen Raum, was am deutlichsten aus den Punkten 1 und 4 hervorgeht. Er rechnet willkürlich die Geschwindigkeiten der Bildpunkte im virtuellen Bild in Winkelgeschwindigkeiten um und erhält dabei Abb. 3. Dies ist jedoch lediglich eine mathematische Transformation aus einem kartesischen Koordinatensystem in ein krummliniges Koordinatensystem. Dann geht er irgendwie davon aus, dass die Wahrnehmung nicht etwa die gleichmäßige Bewegung der Bildpunkte sieht, die im virtuellen Bild tatsächlich vorliegt, sondern die ungleichmäßige Bewegung aus seinem transformierten neuen Koordinatensystem. Mit der Transformation hat er somit einen visuellen Raum definiert, der nun eine zylinderförmige Verzeichnung aufweist (ohne diese würden sich alle Bildpunkte auch hier mit konstanter Geschwindigkeit bewegen!). Diese zylinderförmige Verzeichnung steht jedoch im Widerspruch zu den aus der Wahrnehmungspsychologie bekannten Messdaten [4].

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Last updated: Sept. 2024